Virtueller Pflanzencheck von Reben und Ähren

Private 5G-Funknetze für Agrarflächen, die mobile Cloud am Feldrand, Künstliche Intelligenz und sich vernetzende Sensoren sollen echtzeitfähige Anwendungen für eine nachhaltige und effiziente Landwirtschaft ermöglichen.

Experimentierfelder: Virtueller Pflanzencheck von Reben und Ähren

Beispiel für Zusatzinformationen mittels Augmented Reality: Auf dem Display des Tablets werden für das Modell des Weinbauroboters mögliche Anbaugeräte, hier eine Spritze, angezeigt.

Experimentierfelder: Virtueller Pflanzencheck von Reben und Ähren

Mittels mobiler 5G-Netze kann Landwirten in nicht versorgten Gebieten eine superschnelle Mobilfunkanbindung mit hoher Bandbreite zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere Anwendungen wie Augmented Reality werden damit ermöglicht.

Die Medien, auch die Agrarpresse, sollen ja immer schön bei der Wahrheit bleiben. Deshalb vorweg: Die nachfolgend geschilderten Szenen sind, zumindest in Teilen, eine Vision. Jedoch sind die darin vorkommenden authentischen Personen überzeugt, dass die Dinge schon in naher Zukunft in ihren ebenfalls realen Tätigkeitsfeldern genau so ablaufen könnten. Schließlich gehören sie zu den Praxispartnern der vom Bundeslandwirtschaftsministerium, als Teil des „Zukunftsprogramms Digitalpolitik Landwirtschaft“, geförderten Experimentierfelder LANDNETZ und EXPRESS. Deren Akteure aus Wissenschaft und Praxis, darunter die Protagonisten der nachfolgenden fiktiven Schilderungen, präsentierten am 23. September nach zweijähriger Projektlaufzeit erste Ergebnisse.

Eine Meißner Reblaus wird in Freiberg entlarvt

Szene 1: Die Vorlesung über Weinbau und Kellerwirtschaft an der Bergakademie Freiberg führt Prof. Georg Prinz zur Lippe heute in seinem Weingut Schloss Proschwitz durch. Es liegt 40 Kilometer von der Hochschule entfernt vis-à-vis der Albrechtsburg Meißen. Dort fährt ein Fahrzeug mit aufmontierter 360-Grad-Kamera durch die Weinberggassen. Die hochauflösenden Bilder der Kamera sieht der Dozent auf den Minidisplays einer Datenbrille und kann so das Fahrzeug vom Vorlesungssaal in Freiberg aus mit einem Joystick steuern. Alles, was der Önologe sieht, können auch die Studierenden auf einem großen Bildschirm verfolgen. Gelegentlich werden in den entsprechenden Bildbereichen Angaben eingeblendet, etwa die Temperatur der Traubenoberfläche oder die Blattfeuchte.

Prinz zur Lippe richtet den Blick auf eine Rebe und zoomt heran. Eine Reblauslarve! Sofort blendet das System den Namen des Schadinsekts und mögliche Bekämpfungsmaßnahmen ein. Die Technologie, die dahinter steckt, heißt Augmented Reality (erweiterte Realität), kurz als AR bezeichnet (siehe Kasten Augmented Reality in der Landwirtschaft).

AR-Anwendung und Fernsteuerung sind möglich, weil die Signalübermittlung vom Fahrzeug im Weingut zu AR-Brille und Monitor im Vorlesungssaal sowie retour vom Joystick zum Fahrzeug in Echtzeit erfolgt. Da die bestehende Mobilfunkanbindung im Bereich des Weinbergs schon wegen der zeitlichen Verzögerungen dafür nicht ausreicht, wurde am Vorlesungstag ein privates 5G-Funknetz über dem Weinberg aufgespannt. Das mobile System bietet die für solche Anwendungen notwendige Bandbreite zur Versendung großer Datenmengen sowie eine Übertragungsgeschwindigkeit im Millisekundenbereich, also praktisch ohne spürbare Verzögerung, auch über größere Distanzen.

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Diese Drohne kann 16 Liter Spritzbrühe für den Pflanzenschutz als Nutzlast tragen. Mit einer Akkuladung hält sie sich etwa zehn Minuten in der Luft und schafft so im Einsatz bis zu 10 ha/h.

Zu den in einem Pkw-Kofferanhänger untergebrachten Komponenten des lokalen 5G-Mobilfunknetzes gehört außerdem ein Server, der als sogenannte Edge(Rand)-Cloud fungiert. Dort werden rechenintensive Prozesse, etwa die Separierung der Bildausschnitte je nach Blickrichtung des Nutzers aus den Aufnahmen der 360-Grad-Kamera oder die Einbindung von sich selbständig vernetzenden Sensoren für die AR-Anwendung, gleich vor Ort, in diesem Fall nahe dem Fahrzeug im Weinberg, erledigt. Das spart Bandbreite bei der Datenweiterleitung und sichert eine hohe Datensouveränität. Die Internetanbindung erfolgt dann beispielsweise per Richtfunk oder Satellitenkommunikation.

Schauen, wie der Wachstumsregler wirken wird

Szenenwechsel: Dr. Hartwig Kübler steht am Rande eines Weizenschlages seines Landwirtschaftsbetriebes „Gutshof Raitzen“ in der Lommatzscher Pflege nahe Dresden. Er betrachtet das Feld durch eine AR-Datenbrille. Auch an diesem Standort ist die Mobilfunkanbindung schlecht. Der Landwirt hat sich daher vom örtlichen Landmaschinenhändler ein System für die Errichtung eines privaten 5G-Netzes ausgeliehen. Nach der Installation nutzt er es, um durch die AR-Brille in die Zukunft zu sehen. In der Weizenkultur soll der Wachstumsregler erstmals teilflächenspezifisch auf der Grundlage von Boden- und Ertragskarten appliziert werden. Wie er auf den verschiedenen Feldabschnitten wirken wird oder besser soll, sieht Kübler durch die AR-Brille. Die Daten für die entsprechende App in der Edge-Cloud kommen von Multispektralaufnahmen einer Drohnenkamera, die den Schlag am Vortag beflog, von der Applikationskarte sowie von Produktkennzeichnungen des Wachstumsreglers und von gesammelten Betriebsdaten. Sollte das Bestandsbild nach der teilflächenspezifischen Applikation so gleichmäßig aussehen, wie es der Blick durch die AR-Brille ankündigt, wird der Landwirt das Verfahren auch auf anderen Schlägen einsetzen. Andernfalls liefern die Daten der dazu gehörigen AR-App Anhaltspunkte für die Ursachensuche.

Landwirtschaft als Vorreiter der Digitalisierung

Die beiden Szenarien zeigen mögliche Ziele, denen sich die Akteure der Experimentierfelder LANDNETZ und EXPRESS nach eigener Aussage bei der Präsentation am 23. September am Weinberg Schloss Proschwitz (Sachsen) allerdings bereits nahe sehen. „Ob Drohnen, Sensoren oder Datenmanagementsysteme: Gerade für kleine und mittlere Agrarbetriebe ist es schwer, aus der Vielzahl digitaler Anwendungen passgenaue Lösungen zu finden. Wir testen marktreife Technologien und erkunden zugleich die Potenziale vernetzter digitaler Anwendungen“, umreißt der Sprecher des Experimentierfeldes EXPRESS, Dr. Ingolf Römer von der Universität Leipzig, das Aufgabenfeld.

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Diese 360-Grad-Kamera liefert einen Rundumblick für Anwendungen im Bereich Augmented Reality (AR).

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Mit einer Wärmebildkamera lässt sich frühzeitig ein Krankheitsherd in landwirtschaftlichen Kulturen lokalisieren.

Der Sprecher des Experimentierfeldes LANDNETZ, Dr. Norman Franchi von der Technischen Universität Dresden, hebt die Bedeutung der privaten 5G-Netze mit Cloudfunktionalität für Agrarbetriebe und den ländlichen Raum hervor. „Dieser weltweit einmalige Ansatz kann die Vorreiterrolle der Landwirtschaft bei der Digitalisierung weitestgehend unabhängig vom Glasfaser- und Mobilfunkausbau stärken“, so Franchi.

Mehr Handlungsspielraum und weniger Routine

Hohe Erwartungen haben auch die Leiter der an den Experimentierfeldern beteiligten Betriebe. „Trotz der Datenflut fehlen oft noch praxisnahe Informationen, aus denen sich Handlungsoptionen ableiten lassen, insbesondere, was Eingriffe in den wachsenden Pflanzenbestand anbelangt“, bemerkt Kübler, der 1.300 ha betriebseigene Fläche sowie 1.000 ha in Lohnarbeit bewirtschaftet. Auch sei es immer wichtiger, die Kosten der Pflanzenproduktion im Blick zu behalten. Doch nur die wenigsten Landwirte könnten auf Anhieb sagen, zu welchem Preis sie etwa den Doppelzentner Weizen produzieren. Hier könne ein intelligentes Datenmanagementsystem, das sich den verändernden Bedingungen anpasst, sehr hilfreich sein.

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Akteure der sächsischen Experimentierfelder EXPRESS und LANDNETZ im Rahmen des Zukunftsprogramms Digitalpolitik Landwirtschaft (v. l.): Dr. Norman Franchi, Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe, Dr. Ingolf Römer und Dr. Hartwig Kübler.

Prinz zur Lippe sieht den Menschen weiterhin im Mittelpunkt. „Ein Traktor fährt nicht autonom, um Arbeitszeit zu sparen, sondern um den Fahrer, der viel mehr kann, von Routineaufgaben wie dem Lenken zu entlasten und dafür mehr seine Kompetenz, wie beispielsweise in meinem Falle beim Weinanbau, zur Geltung zu bringen“, so der Gastgeber der Präsentation.

Hintergrund – Augmented Reality in der Landwirtschaft

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Datenbrillen ermöglichen einen selbstbestimmten virtuellen Rundgang durch reale Acker- und Obstkulturen.

Fußballfans ist der mittels Augmented Reality (AR) erzeugte Mix aus Realität und Fiktion bereits vertraut. Wird bei einer Fernsehübertragung die Abseitslinie oder bei Freistößen die Schussentfernung zum Tor eingeblendet, ergänzen diese virtuellen Elemente die Sicht auf das reale Spielgeschehen. Der Fernseher ist dabei nur ein möglicher Monitor für die in diesem Falle recht simplen grafischen Darstellungen. Mit Smartphone, Tablet oder speziellen AR-Brillen, einer entsprechenden App und schnellem Internet ist es ebenso möglich, menschliche Wahrnehmung direkt mit Abbildungen, Texten, Geräuschen oder sogar haptischen Signalen virtuell zu überlagern. AR gilt als eine der Anwendungen, die dem Mobilfunkstandard 5G zum Durchbruch verhelfen soll, da er die dafür notwendigen hohen Datenraten und Übertragungsgeschwindigkeiten bietet.

In vielen Bereichen finden AR-Applikationen bereits Anwendung oder werden gegenwärtig eingeführt, darunter auch in der Landwirtschaft. So entwickelten John Deere und das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) ein Augmented Reality-Wartungsinformationssystem. Es liefert auf dem Laptopdisplay oder in der Datenbrille direkt an der Maschine Informationen über Bauteile, Wartungsintervalle oder Einstelloptionen und führt den Monteur Schritt für Schritt durch die Wartungs- und Reparaturarbeiten. Der Technikausrüster für die Milchviehhaltung Lely testet das Milchmanagement mit Hilfe von Datenbrillen. Milchviehhalter können so unmittelbar beim Beurteilen eines Tieres Angaben zu Laktationstag, Reproduktionsstatus, Tagesproduktion und Futteraufnahme in das Sichtfeld einblenden. Zu unterscheiden ist Augmented Reality vom Begriff Virtual Reality (VR), also einer komplett computergenerierten interaktiven virtuellen Umgebung wie in Fahrsimulatoren für Traktoren und Erntemaschinen.


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