Hier brauchen Unimogfahrer den Lokführerschein

Jedes Lohnunternehmen hat seine eigene Entwicklungsgeschichte. Oft bilden sich dabei Spezialisierungen oder sogar Alleinstellungsmerkmale heraus. Die Hürden zu solchen Nischenangeboten sind hoch. So benötigt das Lohnunternehmen Kemming im Münsterland für seine Dienstleistung zur Freihaltung des Lichtraumprofils von Eisenbahnstrecken nicht nur umgerüstete Zwei-Wege-Fahrzeuge, sondern auch Mitarbeiter mit Lokführerschein.

Dienstleistungen: Hier brauchen Unimogfahrer den Lokführerschein

Für die Vegetationskontrolle auf Eisenbahnstrecken mit Zwei-Wege-Fahrzeugen benötigen die Mitarbeiter einen Lokführerschein.“

Auf den ersten Blick wirkt der Unimog U 400 mit Greifarm und angekuppeltem Jenz-Großhacker nicht ungewöhnlich. Umso mehr irritiert das Fahrmanöver des Gespanns auf dem Rangiergelände des Bahnhofs Pockau-Lengefeld der Sächsischen Erzgebirgsbahn. Denn Nick Heidemann vom Lohnunternehmen Kemming lenkt es geradewegs rückwärts in Richtung eines der Abstellgleise. Als der Anhänger auf den Schienen steht, senkt sich eine Achse mit kleinen Eisenbahnrädern soweit auf die Schienen herab, dass sie den Großhacker komplett aushebt. Während die stählernen Spurkränze nun das angehängte Aggregat in den Schienenstrang zwingen, stößt der Fahrer weiter zurück, bis auch das Zugfahrzeug über den Gleisen positioniert ist und es zwei abgesenkte Eisenbahnradsätze dort halten. Nun kann die Lenkung des Unimog blockiert werden, da die Schienenräder führen. Diese tragen im Gegensatz zum Anhänger jedoch nur die Hälfte des Fahrzeuggewichts. Die andere Hälfte liegt weiterhin auf den Rädern des sogenannten Zwei-Wege-Fahrzeugs, dessen Spurweite an den Schienenabstand der Regelspur des europäischen Schienennetzes von 1,435 Millimeter angepasst ist. Die auf den Schienen aufgesetzten Räder haben dadurch noch genügend Grip, um den Unimog samt Anhänger fortzubewegen und abzubremsen.

„Das Eingleisen erfolgt üblicherweise an Bahnübergängen, aber hier bot sich dafür das Nebengleis an“, sagt Heidemann. Er hat bereits einige Jahre Erfahrung im Umgang mit dem straßen- als auch schienentauglichen Spezialfahrzeug. Ziel sei das Häckseln von Ästen, die beim Freischneiden des Lichtraumprofils entlang der Bahnstrecke zurückbleiben. Die für die Verkehrssicherheit unerlässliche Aufwuchsbeseitigung habe ebenfalls ein Team des Lohnunternehmens mit einem anderen Zwei-Wege-Fahrzeug erledigt, das mit einer hydraulischen Schere ausgestattet ist.

Kein Handgriff im Gleisbereich ohne Betra

Bei aller Notwendigkeit die störende Vegetation im Gleisbereich effizient zu beseitigen, stehe jedoch die Sicherheit immer an erster Stelle, betont Uwe Daschkewicz, Geschäftsbereichsleiter Industrie und Kommunalarbeiten. Auch für diesen Arbeitstag an der Bahnstrecke der Erzgebirgsbahn regele eine Betriebs- und Bauanweisung, im Bahnjargon kurz „Betra“ genannt, haarklein, welche Arbeiten wann in den vorgegebenen Abschnitten der Bahnstrecke durchgeführt werden oder wo das Ein- und Ausgleisen des Zwei-Wege-Fahrzeugs erfolgt.

Eine Plakette an der Tür verweist auf die jährliche Überprüfung der Technik durch eine dafür von der Bahn autorisierte Werkstatt. Für den Einsatz auf der Schiene benötigen die Mitarbeiter zudem neben dem Lkw- auch einen vom Eisenbahnbundesamt ausgestellten Triebfahrzeugführerschein.

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Thomas Kemming, geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensgruppe Kemming.

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Uwe Daschkewicz, Wilhelm Kemming GmbH, Geschäftsbereichsleiter Industrie und Kommunalarbeiten.

Familienunternehmen in dritter Generation

„Die Anforderungen an die Technik und die Betriebssicherheit sind in diesem Sektor tatsächlich sehr hoch und mit nicht unerheblichen Kosten verbunden“, bestätigt Geschäftsführer Thomas Kemming. Allein die theoretische und praktische Ausbildung zum Triebfahrzeugführer schlage unterm Strich mit etwa 20.000 Euro pro Mitarbeiter zu Buche.

Beim Einstieg in das Familienunternehmen nach Abschluss seines fünfjährigen Landwirtschaftsstudiums habe er 2002 ebenfalls zunächst den Lokführerschein erworben. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters Wilhelm Kemming musste sich der heute 47-Jährige dann auch schnell in das Gesamtportfolio des Fachbetriebes einarbeiten, das neben den Arbeiten auf der Schiene die Bereiche Agrardienstleistungen und Spedition umfasst.

Das Unternehmen mit Sitz in Dülmen-Hiddingsel (NRW), für das bereits Großvater Adolf Kemming mit einer Druschgemeinschaft im Münsterland in den 1920er Jahren den Grundstein legte, hat Niederlassungen in den sächsischen Kleinstädten Lommatzsch sowie Roßwein-Haßlau und beschäftigt insgesamt 70 Mitarbeiter. „In der nunmehr dritten Generation stehen das Lohnunternehmen als auch unsere beiden Agrarbetriebe mit Landwirtschaftsflächen von 125 beziehungsweise 275 Hektar auf sicheren Beinen“, so Thomas Kemming, der sich als Präsidiumsmitglied im Landesverband NRW der Lohnunternehmer für den Berufsstand einsetzt und im DLG-Arbeitskreis „Technik in der Pflanzenproduktion“ mitwirkt.

Während die Kemming-Gruppe in der Region ihres Firmensitzes eine breite Palette an landwirtschaftlichen Dienstleistungen für den Pflanzenbau anbietet, bis hin zu teilflächenspezifischer Maisaussaat und ab 2021 satellitengestütztem Applizieren von Wachstumsreglern im Getreide, steht in Sachsen die Ausbringung von festem und flüssigem Wirtschaftsdünger sowie mineralischen Nährstoffen im Mittelpunkt. „Hier bieten wir ebenfalls modernste Technik in Kombination mit allem, was auf dem Gebiet der Präzisionslandwirtschaft derzeit möglich ist“, sagt der Geschäftsführer. So verfüge der Gülleselbstfahrer Holmer Terra Variant über einen NIR-Sensor, der zusammen mit GPS-Signal und ISOBUS-Bordrechner exakte Nährstoffgaben entsprechend des Bedarfs auf den einzelnen Teilflächen ermöglicht.

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Eine auf die Achsen aufgesetzte und mit Bolzens fixierte Vorrichtung begrenzt den Federweg des Fahrzeugs und verhindert so ein zu starkes Schwanken beim Einsatz des Greifers.

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Beim Eingleisen lenkt Fahrer Nick Heidemann zunächst den angehängten Großhäcksler auf die Schienen im Rangierbereich des Bahnhofs.

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Auf ein Zeichen von Mitarbeiter Mario Glöcker löst der Fahrer des Spezial-Unimog das Absenken des Eisenbahnfahrgestells aus.

Etliche tausend Schienenkilometer pro Jahr

In Sachsen ist außerdem die Mehrzahl der Zwei-Wege-Fahrzeuge stationiert, die nach Aussage des Firmenchefs bundesweit insgesamt etliche tausend Kilometer pro Jahr auf Gleisen zurücklegen. Dabei gehe es immer um die chemische oder mechanische Aufwuchsbeseitigung entlang der Schienenwege. Während die meisten der etwa 400 Eisenbahnverkehrsunternehmen in Deutschland die Aufträge dazu direkt erteilten, fungiere man bei der Deutschen Bahn als Nachauftragnehmer. Das Freischneiden der Lichtraumprofile erfordere in aller Regel eine Streckensperrung mit auftragsgebundener Betra. Bei den Einsätzen werde das Begleitgrün stufig, entsprechend der von der Schienenmitte ausgehenden Maßvorgaben, entfernt. Gehölz direkt am Gleisfuß sei nach dem Leitbild der Bahn ebenso wenig erlaubt wie überhängende Äste.

Dagegen erfolge die Anwendung chemischer Mittel zur Vegetationskontrolle im laufenden Bahnbetrieb nach Zugfahrplänen. „Die Zwei-Wege-Fahrzeuge sind bei diesen Einsätzen sicherheitstechnisch wie ein ICE ausgerüstet, vom Zugfunk über eine Totmann-Schaltung bis zur Zugbeeinflussung von der Schiene über PZB 90“, berichtet Kemming.

Für die Aufwuchsbeseitigung neben den Bahntrassen und im Gleisbett verfügt das Münsterländer Unternehmen über insgesamt elf Zwei-Wege-Fahrzeuge. Drei umgerüstete Mercedes-Benz Sprinter Kastenwagen und sechs Unimog mit unterschiedlichen Aufbauten bewegen sich auf den Schienen, wie eingangs beschrieben, über die mit halbem Fahrzeuggewicht aufgesetzten Antriebsräder, während die Eisenbahnräder die Spurführung sichern. Eine Besonderheit und in ihrer Art einmalig sind die beiden Loctracs. Die schienentauglichen Lkw basieren auf einem zweiachsigen Iveco sowie auf einem dreiachsigen MAN und haben drehbare Schienenfahrgestelle mit eigenen hydraulischen Antrieben. Dadurch können die Spezialfahrzeuge an Bahnübergängen quer über den Schienen stehend die Eisenbahnräder ausfahren, das Fahrzeug komplett ausheben und sich nach dem Drehen in die gewünschte Fahrtrichtung wie ein Triebfahrzeug auf den Schienen fortbewegen. Ebenso ermöglicht diese Technik das Ausgleisen an jedem Bahnübergang. „Die Entwicklung und der Bau von Loctrac 2 ist eine Investition von gut 700.000 Euro. Allein 160.000 Euro davon entfielen auf die Zulassung des Sonderfahrzeugs“, informiert Kemming.

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Bei der Schienenfahrt liegt die Hälfte der Fahrzeuglast auf dem Eisenbahnfahrgestell. Die andere Hälfte verbleibt auf den Rädern.

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Mit dem Greifarm füttert Nick Heidemann den Großhacker mit Ästen, die beim Freischneiden des Lichtraummaßes entlang der Bahnstrecke anfallen. Das Gespann kann er direkt von der Krankabine aus vor- und zurücksetzen.

Vegetationskontrolle bleibt ein Dauerthema

Die Anfänge der speziellen Dienstleistung des Lohnunternehmens für Eisenbahngesellschaften liegen in den 1970er Jahren. Damals hatte die Firma Spiess-Urania Chemicals Wilhelm Kemming, der über große Erfahrungen beim chemischen Pflanzenschutz verfügte, eine Kooperation angeboten. Seitdem hat sich die Kemming Gruppe in diesem Nischenmarkt etabliert und ihre Kompetenz ausgebaut. „Wie in der Landwirtschaft tüfteln auch die Eisenbahnunternehmen an Alternativen zur chemischen Vegetationskontrolle“, weiß Thomas Kemming. Welche Verfahren sich dabei auch immer durchsetzen werden – die Aufwuchsbeseitigung, da ist sich der Geschäftsführer sicher, bleibe für die Sicherheit und den Erhalt der fast 75.000 Kilometer Gleisanlagen in Deutschland ein Dauerthema.

Das Lohnunternehmen Kemming werde auch zukünftig seine Expertise zur Bewältigung dieser Aufgabe beisteuern.


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