Hochvoltfahrzeuge: Ölwechsel adé?

Werkstatt: Hochvoltfahrzeuge: Ölwechsel adé?

Die Qualifikation des Werkstattpersonals ist ein Muss bei Wartung und Reparatur von Hochvoltfahrzeugen. Hier ein Lehrgang der Handwerkskammer Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim.

Werkstatt: Hochvoltfahrzeuge: Ölwechsel adé?

Sobald elektrische Systeme und Antriebe den klassischen Dieselmotor nach und nach ersetzen, verändern sich auch die Reparatur, Wartungs- und Instandhaltungsaufgaben sowie die regelmäßigen Intervalle in den Werkstätten. Im Vergleich zu Dieselmotoren bestehen elektrische Antriebe aus deutlich weniger Bauteilen, die zudem auch teilweise kontaktlos arbeiten. Dementsprechend ergeben sich bei E-Antrieben weniger verschleißanfällige Komponenten als im bekannten Verbrenner. Der klassische Motor-Ölwechsel, Ölfilterwechsel oder Arbeiten an der Abgasanlage sind bei elektrischen Antrieben überflüssig. Mit dem Wegfall des klassischen Ölwechsels entfallen auch die Wartungsarbeiten an diversen Dichtungselementen. Darüber hinaus hat die gesteigerte Elektromobilität auch direkten Einfluss auf weitere Verschleißteile.

So werden die Bremsen durch die Energierückgewinnung, das sogenannte Rekuperieren, deutlich weniger beansprucht, was unweigerlich den Verschleiß der Bremsbeläge sowie den dazugehörigen Wartungsaufwand reduziert. Zudem können gut regelbare E-Antriebe auch ein einfacher aufgebautes und damit instandhaltungsfreundliches Getriebe zur Folge haben. Auf der anderen Seite bedeutet eine gesteigerte Elektrifizierung auch mehr Elektronik, höhere Bordnetzspannungen und Hochvoltsysteme (HV-Systeme). Daher verändert sich auch das Bild der klassischen Werkstatt und Messgeräte sowie Laptops gehören zukünftig zur Basis- ausrüstung, um eine effiziente, sichere und zuverlässige Diagnose am Hochvolt (HV)-Fahrzeug zu ermöglichen.

Werkstatt: Hochvoltfahrzeuge: Ölwechsel adé?

Herzstück der Werkstatt

Herzstück einer jeden Werkstatt ist und bleibt das gut geschulte Fachpersonal. Im Zuge der Elektrifizierung ändern sich die Herausforderungen an das Personal jedoch kontinuierlich und es gilt, Erfahrungen neu aufzubauen.

Die Arbeit an sogenannten „Hochvolt-Fahrzeugen“ darf nur von speziell geschulten Fachkräften durchgeführt werden, da die eingesetzten Spannungen > 25 V AC oder 60 V DC bei einer Frequenz von 500 Hz zu einer erhöhten Gefährdung führen. Prinzipiell kann jeder Mitarbeiter die Weiterbildungen für Elektromobilität absolvieren. Die Dauer und der Umfang der Qualifizierung sind abhängig von den bereits vorhandenen Kenntnissen und dem Grad der Gefährdung, welcher beim Arbeiten an HV-Systemen auftreten kann. Die „Fachkundige Person Hochvolt“ wird entweder in Tätigkeitsfeldern vor oder nach Start der Serienproduktion (Start of Production = SoP) von vollelektrischen Fahrzeugen eingesetzt. Die Aufgaben der „Fachkundigen Person Hochvolt“ liegen vor Start der Serienproduktion im Entwicklungsprozess. Nach Serienfreigabe des Fahrzeugs ist der Tätigkeitsschwerpunkt im Bereich der Montage von HV-Systemen oder Servicearbeiten an Serienfahrzeugen angesiedelt. Die verbauten HV-Komponenten verursachen im Normalbetrieb bei Serienfahrzeugen keine elektrischen Gefahren. Dennoch ist eine erhöhte Gefährdung durch Servicearbeiten an unter Spannung stehenden HV-Systemen nicht auszuschließen. Eine noch höhere Gefährdung liegt vor, wenn es sich um Unfallfahrzeuge mit HV-Komponenten handelt. Daher spielt eine ausreichende Qualifikation eine Schlüsselrolle, um Gefahren bei Servicearbeiten an HV-Komponenten und HV-Systemen weitestgehend zu minimieren.

Werkstatt: Hochvoltfahrzeuge: Ölwechsel adé?

Die Elektrifizierung wird die Diagnose und den Werkstattalltag verändern.

Das sagt die Berufsgenossenschaft

Gemäß Berufsgenossenschaft Verkehr der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) Information 209-093 – Qualifizierung für Arbeiten an Fahrzeugen mit Hochvoltsystemen, ist zwischen vier Stufen zu unterscheiden. Die Kennzeichnung der unterschiedlichen Qualifizierungsstufen erfolgt durch ein „E“ bei Arbeiten vor Produktionsstart und „S“ bei Arbeiten an Serienfahrzeugen, wie zum Beispiel Servicearbeiten. Eine bestandene Qualifikation gilt als Voraussetzung, um die darauf aufbauende Stufe starten zu dürfen. Nach erfolgreichem Abschluss der ersten Stufe (Stufe S) ist es einer Person überhaupt erst gestattet, ein Elektrofahrzeug zu berühren und erste Ser- vicearbeiten auszuführen, wie zum Beispiel das Wechseln der Scheibenwischerblätter. Voraussetzung ist jedoch, dass keine HV-Komponenten in der Nähe sind. Daher müssen auch Serviceklappen und Motorhaube geschlossen bleiben, um eine Berührung der dahinter angeordneten HV-Komponenten auszuschließen.

Die zweite Qualifikationsstufe (Stufe 1S) bezeichnet die „Fachkundig unterwiesene Person“ (FuP) und erweitert den erlaubten Arbeitsumfang hinsichtlich Instandhaltungsaufgaben oder Inspektionen, sofern die durchgeführten Arbeiten das HV-System nicht unmittelbar betreffen. Somit erlaubt die Stufe „1S“ Karosseriearbeiten, Öl- und Radwechsel, Arbeiten an der Bremsanlage, dem Verbrennungsmotor bei Hybridfahrzeugen oder auch Arbeiten am konventionellen Bordnetz (bis 30 V AC und 60 V DC).

Mit Abschluss der dritten Stufe (Stufe 2S) ist der Absolvent dazu befähigt, sicher und selbstständig an spannungsfreien HV-Systemen zu arbeiten (FHV). Dazu zählt unter anderem das Messen von Isolationswiderständen.

Erst der Abschluss der höchsten Qualifikationsstufe (Stufe 3S) befähigt zur Fehlersuche sowie zur Durchführung von „Arbeiten an unter Spannung stehenden HV-Systemen“ (FHV der Stufe 3). Weiterhin ist es der „FHV“ mit Qualifikationsstufe 3S auch erlaubt, unter Spannung stehende Bauteile des HV-Systems zu tauschen. Laut DEKRA umfasst die Qualifikation zur Fachkraft folgende Unterrichtseinheiten (eine UE entspricht 45 Minuten):

  • 1S (FuP): 2-4 UE
  • 2S (Personen ohne elektrotechnische Vorkenntnisse): 72 UE Theorie + 8 UE Praxis
  • 2S (Personen mit fahrzeugtechnischer Ausbildung): 8 UE Theorie + 8 UE Praxis
  • 3S (Personen mit elektrotechnischen Vorkenntnissen): 8 UE Theorie + 16 UE Praxis

Die für eine „FHV“ notwendigen Seminare, Qualifikationen und Prüfungen bieten unterschiedliche Institutionen an. Stellvertretend sei an dieser Stelle der Bundesverband LandBauTechnik (LBT) erwähnt, der eine in fünf Tagesmodule und 46 UE aufgeteilte Fortbildung zur „FHV der Stufe 3“ in der Land- und Baumaschinentechnik gemäß DGUV Information 209-093 anbietet. Voraussetzung für die Teilnahme ist neben dem obligatorischen Mindestalter von 18 Jahren sowie dem Nachweis der gesundheitlichen Eignung und einem Erste-Hilfe-Kurs auch ein Meister- oder Gesellenbrief in der Land- und Baumaschinentechnik oder eine Berufsausbildung in einem fahrzeugtechnischen Beruf mit einer Berufserfahrung von mindestens drei Jahren. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass der Bundesverband LandBauTechnik eine bundesweit standardisierte Fortbildung zur „FHV“ entwickelte, welche auf die branchenspezifischen Belange der Land- und Baumaschinenbranche zugeschnitten ist. Neben der Vermittlung aller relevanten Normen und Vorschriften sowie dem Arbeiten an HV-Komponenten, beinhaltet die Fortbildung auch fachspezifische Seminarinhalte, wie zum Beispiel die Fehlersuche an HV-Systemen der Land- und Baumaschinentechnik.

Die unterschiedlichen Institutionen bilden die „FHV“ nach DGUV Information 209-093 aus, wodurch viele Basisinhalte vergleichbar sind. Abgesehen von branchenspezifischen Inhalten kann es jedoch auch zu geringen Unterschieden führen, wie zum Beispiel der angebotene Kurs zur „FHV der Stufe 3E / 3S“ vom TÜV Süd, der eine mindestens einjährige Erfahrung als „FHV der Stufe 2“ gemäß DGUV I 209-093 voraussetzt. Nach erfolgreichem Abschluss der „FHV-Stufe 3“ unterliegt diese einer Gültigkeit von drei Jahren und erfordert vor Fristablauf einen Tageskurs zur Auffrischung der Kenntnisse. Dennoch sind diese Qualifikationsmaßnahmen ein absolutes Muss, um einerseits eine fachkundige Instandhaltung sowie Service zu gewährleisten und andererseits Maschine und vor allem Mensch zu schützen.

Stufe S: Sensibilisierte Person (Bedienen von Fahrzeugen)

Stufe 1S: Fachkundig unterwiesene Person (FuP) für allgemeine Arbeiten

Stufe 2S: Fachkundige Person (FHV der Stufe 2S) für Arbeiten an HV-Systemen im spannungsfreien Zustand

Stufe 3S: Fachkundige Person (FHV der Stufe 3S) für Arbeiten an unter Spannung stehenden HV-Komponenten

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Reparaturen an Hochvolt-Fahrzeugen erfordern Persönliche Schutzausrüstung.

Große Potentiale nutzen und Nachteile in Vorteile überführen

Erfahrene Fachkräfte sind nach wie vor gefragt. Doch aufgrund der noch in den Kinderschuhen befindlichen Elektrifizierung im Bereich der Landmaschinen müssen diese Erfahrungen erst neu gewonnen werden. Genau hierbei kommt modernste Technik ins Spiel und sorgt gleichermaßen für einen beschleunigten Erfahrungsaufbau bei Fachkräften und für gleichbleibend hohe Maschinen-Servicequalität. Konkret ermöglichen Sensoren die Generierung von Maschinendaten in Echtzeit, die anschließend in einer Cloud gespeichert die Basis der weiteren Analyse darstellen. Die Zustandsüberwachung in Echtzeit lässt sich auch als „Condition Monitoring“ betiteln. Im virtuellen Raum kommt der sogenannte „Digital Twin“, der digitale Zwilling zur Anwendung. So wird ein digitales Modell der Maschine oder auch nur einer Komponente, wie zum Beispiel dem Antrieb oder dem Getriebe, erstellt, der sogenannte Zwilling, und mit den zuvor gewonnenen Echtzeit-Maschinendaten gefüttert. Durch diese virtuelle Systemabbildung ist es möglich, den kompletten Lebenszyklus der Maschine oder Komponente abzubilden. Auch und gerade Daten zu Störungen, Materialermüdung und Maschinenausfällen in Kombination mit dem Einsatzspektrum der Maschine sind eine wichtige Datengrundlage für die Gewinnung neuer Erkenntnisse und letztlich auch für die Festlegung zukünftiger Serviceintervalle. Folglich lassen sich aufgrund dieser analysierten Daten konkrete Rückschlüsse auf mögliche Komponentenausfälle oder Schwachstellen ziehen. Je mehr Daten durch die Sensoren gewonnen und auf den „Digital Twin“ übertragen werden, desto detailliertere Aussagen leiten sich daraus ab.

Dies hat einen direkten Einfluss auf die vorbeugende Instandsetzung (Predictive Maintenance). Wartungsintervalle und Wartungsstrategien lassen sich gezielt auf die individuelle Maschine anwenden und Maschinen- oder Komponentenausfälle konsequent und vorausschauend reduzieren. Kommt es aufgrund der zuvor analysierten Daten zu einem vorbeugenden Austausch einer Komponente oder liegt eine Störung vor, so unterstützt die fortschreitende Technik die Fachkraft auch direkt durch den Einsatz von „Augmented Reality“. Hierbei wird die Fachkraft durch zum Beispiel ein Tablet oder auch eine intelligente AR-Brille bei der Arbeit am Fahrzeug unterstützt und zum Beispiel auf mögliche Ursachen sowie die einzelnen Schritte zur Behebung einer Störung hingewiesen. Dies ermöglicht schnelles und effizientes Arbeiten und vermeidet zeit- und kostenintensive Maschinenausfälle. Darüber hinaus eröffnet die Anwendung der Digitalisierung die Möglichkeit für gleichbleibend hohe Servicequalität, die zunehmend unabhängig von der Berufserfahrung der Fachkraft ist. Zukünftig können Fachkräfte auch bei Störungen, mit welchen sie erstmalig konfrontiert werden, auf die modellbasierte Erfahrung zurückgreifen und eine effiziente Lösung umsetzen.

Glossar – Wichtige Begriffe im Zusammenhang mit dem Service bei vollelektrischen Fahrzeugen:

Hochvolt (HV):
Umfasst Gleichspannungen von > 60 V und ≤ 1.500 V DC sowie Wechselspannungen zwischen > 30 V und ≤ 1.000 V AC in der Fahrzeugtechnik, besonders in der Hybrid- und Brennstoffzellentechnologie sowie bei batterieelektrischen Fahrzeugen.

HV-Komponente:
Ist eine Komponente, die in einem Fahrzeug eine Spannung gemäß der „Hochvolt“ Definition bereitstellt.

HV-System:
Als HV-System wird ein System bezeichnet, welches aus mindestens zwei HV-Komponenten besteht.

Fachkundige Person für Arbeiten an HV-Systemen im spannungsfreien Zustand (FHV der Stufe 2E / 2S):
Eine Fachkraft, die über die erforderlichen Fachkenntnisse zur Arbeit an Hochvoltsystemen im spannungsfreien Zustand befähigt ist.

Fachkundige Person für Arbeiten an unter Spannung stehenden HV-Systemen (FHV der Stufe 3E / 3S):
Eine Fachkraft, die über die erforderlichen Fachkenntnisse zur Arbeit an unter Spannung stehenden Hochvoltsystemen befähigt ist. In unterschiedlichen Fachlektüren auch als FuS = „Fachkundige Person für Arbeiten an unter Spannung stehenden HV-Systemen“ bezeichnet.

Sensibilisierte Person:
Eine Person, die für das Bedienen von HV-Fahrzeugen und HV-Komponenten sowie auf den bestimmungsgemäßen Gebrauch hingewiesen wurde.

SoP (Start of Production):
Bezeichnet den Beginn der Serienproduktion von Fahrzeugen, bei der die Montage nach standardisierten Arbeitsverfahren erfolgt.


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