„Irgendwo im Nirgendwo unterwegs“

Die deutsche Landtechnikindustrie exportiert mehr als 75 Prozent ihrer Produktion in alle Teile der Welt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Bereichen Vertrieb und Technik reisen weltweit ihren Maschinen und Komponenten voraus und hinterher. Dabei treffen sie auf Menschen aus verschiedensten Ländern und Kulturen. Arno Dittmar, Geschäftsführer der Group Schumacher, berichtet im Interview über seine Erfahrungen im Miteinander mit internationalen Geschäftspartnern und über das Nachhausekommen.

Interview: „Irgendwo im Nirgendwo unterwegs“

Arno Dittmar (rechts) ist weltweit für die Mähsysteme der Group Schumacher aktiv. Hier im Fachgespräch mit einem brasilianischen Farmer.

Herr Dittmar, wie sind Sie zur Group Schumacher gekommen?

Ich wollte beruflich immer etwas Internationales machen. Allerdings ist es mir immer sehr schwergefallen, etwas Passendes zu finden, weil die deutschen Firmen strikt so organisiert waren: Es gibt Inland und es gibt Export. Bis Mitte der 2000er-Jahre war das immer eine gedankliche Trennung. In der damaligen Zeit war es für viele sehr ungewöhnlich, jemanden hier vor Ort zu haben, der noch dazu international reist. Dann habe ich Ende der 2000er-Jahre unseren Eigentümer kennengelernt, der sagte: „Ich suche jemanden, der viele Bedürfnisse erfüllen kann. Ich brauche jemanden, der die Landwirtschaft versteht, ich brauche jemanden, der Technik kann, und ich brauche jemanden, der gerne auf dieser Welt unterwegs ist – dann auch nicht Downtown. Unsere Zielgruppen sitzen oft auf dem Land und da suche ich jemanden, der die Position als Vertriebsleiter übernehmen kann.“ Sprich, das kann, was er selbst damals getan hat. Und somit bin ich zur Firma Schumacher gekommen und in den letzten zwölf Jahren doch sehr viel in den letzten Ecken dieser Welt herumgetourt. Wir sind zu 90 Prozent im „Off“ unterwegs. Da geraten wir gar nicht so selten in Situationen, wo wir mit Händen und Füßen reden müssen, um uns zu verständigen.

Können Sie uns Ihren Berufsalltag schildern?

Gloria et honore, wie es im Lateinischen heißt, wäre so ein Thema, dem ich öfter begegne. In manchen Teilen dieser Erde, gerade in Asien, in Russland oder außerhalb der westlichen Welt sind Ruhm, Ehre, Hierarchie und Anerkennung wesentlich. Da nehme ich unsere Arbeits- und Denkweise als liberaler wahr. Und manchmal entstehen Konflikte, weil es uns schwerfällt, diese andere Sicht zu akzeptieren und zu honorieren. Im praktischen Alltag als Reisender treffe ich auch oft Menschen, die für Großkonzerne und Banken unterwegs sind. Die fliegen zum Beispiel von Frankfurt nach New York oder nach Chicago Downtown, laufen drei Tage in ihren Nadelstreifenanzügen durch die Gegend. Bei uns ist es so, dass wir im Flugzeug sitzen, nach zehn Minuten Chicago verlassen und die Zeit irgendwo im amerikanischen Off verbringen, manchmal unter den widrigsten Umständen. Oder in Russland, China, Südamerika, Afrika oder Australien. Da habe ich die Qual der Kleidungswahl. In der Türkei brauche ich zusätzlich einen Anzug, weil meine türkischen Geschäftspartner sehr formell und ordentlich sind. Ich brauche aber auch Kleidung, wo ich sagen kann, ich kann mich auch mal zwei Tage dreckig machen.

Gibt es noch etwas, das Sie immer mit auf Geschäftsreisen nehmen?

Ich habe immer einen kleinen Werkzeugkasten mit einem Phasenprüfer und einem Leatherman oder auch einem kleinen Hammer mit dabei. In Hotels repariere ich schon mal Stromleitungen für Steckdosen oder, wenn kein Wasser kommt, auch mal den Boiler für Heißwasser. Oder dass die Tür überhaupt auf- oder zugeht oder das Schloss schließt, das sind so Kleinigkeiten, die ich immer wieder mal so nebenbei mache, wenn ich irgendwo im Nirgendwo unterwegs bin.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie zurückkommen von so einer Reise?

Ich freue mich auf mehrere Dinge. Zum einen empfinde ich unendliches Glück, hier in Deutschland geboren worden zu sein, mit dem Maß an Demokratie und an Freiheit, das wir haben. Auf ein Land immer wieder zurückgreifen zu können, in dem man alle Möglichkeiten hat, die einem diese heutige Welt bieten kann – das ist für mich immer der größte Genuss. Zum anderen singe ich, immer wenn ich in Frankfurt lande, das Lied von Westernhagen »Ich bin wieder hier in meinem Revier«. Das hat eine gewisse symbolische Bedeutung, weil ich auf dem Rückflug meiner ersten Chinareise 2003 wirklich weinend im Flugzeug gesessen habe. Bis 2003 kannte ich Internationalität nur in Europa und Nordamerika, also die westliche Welt. Dann war ich 2003 zum ersten Mal in Asien und in Shanghai. Das war so beeindruckend, dass ich damals diese Banalitäten, die wir in unserer Gesellschaft als wichtig ersehen, überhaupt nicht mehr nachvollziehen konnte, aus einem Land wie China in der damaligen Zeit kommend. Was mit Dienstreisen auch verbunden ist, aber immer wieder vergessen wird, ist, dass es da noch Menschen gibt, die ohne mich klarkommen müssen. Das ist dann nicht nur die Firma, sondern auch die Familie. Deutschland lebt sehr stark vom Export und somit gibt es viele Arno Dittmars, die unterwegs sind, wo auch immer. Viele Geschäftsleute könnten nicht reisen, wenn ihnen zu Hause nicht jemand den Rücken freihalten würde. Dass unsere Wirtschaft als Volkswirtschaft so gut dasteht, liegt nicht nur daran, dass wir viele Leute haben, die unterwegs sind, sondern sich auch viele Leute zu Hause um alles kümmern.

Gibt es auch ein Ritual, wenn Sie nach Hause kommen?

Ja, da gibt es immer so ein kleines Ritual. Es klingt sehr banal. Ich bin auf dem Dorf groß geworden und wir lebten eigentlich zu einem Höchstmaß von Selbstversorgung. Wenn ich von einer Dienstreise zurückkomme, gehe ich an den Kühlschrank oder in die Vorratskammer, suche mir eine Dose Leberwurst, noch ein bisschen Roggenbrot, meistens noch eine Flasche Bier und esse einen ganz gewöhnlichen Brotaufstrich mit Leberwurst und Roggenbrot – und genieße das dann auch. Ich nehme mir dafür auch entsprechend Zeit. Eigentlich ist das Essen überall auf dieser Welt sehr schön, aber ab einem gewissen Zeitpunkt freue ich mich doch wieder auf die handwerkliche Kunst vom Metzger oder Bäcker nebenan.

Interview: „Irgendwo im Nirgendwo unterwegs“

Das Spektrum der Schumacher-Kunden in der Erntetechnik ist international vielfältig.

Im Zeitalter von Telefonkonferenzen und Videomeetings fliegen Sie persönlich zu Ihren Geschäftstreffen. Wie wichtig ist für Sie der persönliche Kontakt?

Virtuelle Zusammenarbeit ist ein Werkzeug, das Dinge vereinfachen kann. Und wir Menschen sind ja über die letzten tausend Jahre so konditioniert, dass wir, wenn wir Vertrauen brauchen, unser Gegenüber riechen können müssen. Wir müssen unser Gegenüber sehen können, mit seiner Gestik, seiner Mimik. Und dieses Einschätzen-Können werde ich virtuell nicht machen können. Wenn ich einen Bauplan für ein Gebäude oder eine Eisenbahnstrecke abfragen will, kann ich ein virtuelles Meeting ansetzen, dann kann ich die Lieferanten zusammenbringen oder die Bauingenieure und sagen: Okay, so ist der Status quo. Aber sowie ich in einer Beziehung bin mit Verantwortung – und da bin ich der festen Überzeugung –, wird uns auch die Virtualität keine Hilfestellung geben. Ich brauche den persönlichen Dialog, ich brauche das Zusammenkommen – und das wird auch die nächsten 100 bis 200 Jahre so bleiben. Da wird uns das Thema CO2 vielleicht dazu zwingen, weniger zu reisen, aber ganz auf persönliche Treffen zu verzichten, wird nicht machbar sein.

Können Sie sich an eine schwierige Situation auf Reisen erinnern?

Jede Dienstreise birgt ja ein kleines Abenteuer in sich mit verpassten oder ausgefallenen Flügen. Was mich dabei am meisten beeindruckt, ist die Gastfreundschaftlichkeit, mit der ich auf dieser Welt empfangen werde, und diese Hilfsbereitschaft, die mir viele Menschen auf dieser Welt entgegenbringen. Ein Beispiel: Wenn wir Deutsche mit unserem – sage ich mal – Übermut kommen, technisch überlegen zu sein, aber vollkommen hilflos dastehen, wenn der Flug ausfällt, und der Kunde sagen muss: Ich organisiere mal ein ländliches Taxi und fahre dich 300 Kilometer durch die Gegend zum nächsten Flughafen. Wenn man das kennen und schätzen gelernt hat, dann lernt man auch seine Kunden und Ansprechpartner kennen und schätzen.

Wenn Sie einmal an Ihren Berufsstart zurückdenken und damit vergleichen, wo Sie heute aus interkultureller Sicht stehen: Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Ich bin ländlich aufgewachsen, als jüngster Sohn eines Landwirtes, der vier Söhne hat. Meine Jugend war davon geprägt auf dem Bauernhof, auf einem Dorf zu leben und mit Freunden, die aus dem Dorf kamen, die Zeit zu verbringen. Alles, was außerhalb der Dorfgrenze war, war schon international und fremd. Ich weiß nicht warum, aber irgendwann hatte ich die Idee, dass ich das Dorf, das dörfliche Leben, verlassen will, ins Ausland möchte. In der Fachhochschule damals haben sie mir davon abgeraten: Deutschland zu verlassen, das kann nicht gut sein. Das Studium zu unterbrechen, um andere Kulturen kennenzulernen, das war irgendetwas Komisches. Für meine Herkunft war das sehr außergewöhnlich. 1994 war ich dann für sechs Monate in Australien. Und das war für mich das Erstaunliche: Man geht mit 25 Jahren in eine andere Welt und glaubt, sie ist ähnlich wie zu Hause. Aber es war alles anders. Da habe ich zum ersten Mal kulturelle Unterschiede gespürt. Vieles war für mich sehr fremd und neu: Dass man bei einer Dienstreise erst einmal zwei Tage unterwegs ist, bis man bei Kunden ist, dass Menschen keinen Sozialneid untereinander haben, dass es den Nachbarn und Nachbarinnen relativ egal war, ob der eine jetzt Arzt bzw. Ärztin ist oder nur Arbeiter bzw. Arbeiterin. Jeder hat so sein Leben gelebt und man hatte nicht diesen Sozialneid, den ich hier in Deutschland kannte. Das habe ich damals in Australien erfahren können.

Interview: „Irgendwo im Nirgendwo unterwegs“

Die Messe CIAME in China: Für eine gute Geschäftsbeziehung muss man besonders hier Vertrauen aufbauen. Das kann einen längeren Zeitraum dauern.

Mit Ihrem Erfahrungsschatz von damals bis heute: Wie hat die internationale Arbeit Sie verändert?

Nichts hat mich so stark verändert wie die Arbeit der letzten zwölf oder 15 Jahre, die Kulturunterschiede, denen ich begegnet bin, aber auch die männlich geprägte Welt, in der ich mich bewege. Was ich aus diesen Erfahrungen gelernt habe, ist zu verstehen, was die andere Seite meint. Wir hatten letztens ein Konfliktgespräch mit einem Kunden aus Polen. Dafür hatten wir eine Dolmetscherin organisiert, die so schön sagte: »Meine Aufgabe ist nicht zu übersetzen, was gesprochen wird, sondern meine Aufgabe ist zu übersetzen, was gemeint ist.« Das ist für mich die größte Veränderung in meinem eigenen Leben. Dass ich heute diese Antennen entwickelt habe, etwas zu lesen, das nicht geschrieben ist, und auch etwas zu hören, das nicht gesprochen wurde. Das ist gerade im interkulturellen Alltag sehr wichtig. Es gibt zudem viele Restriktionen, religiöse, politische oder auch gesellschaftliche Zwänge, die die Menschen dazu bringen, in einer Art und Weise zu kommunizieren, wie wir es nicht gewohnt sind.

Das ist letzten Endes der springende Punkt beim Thema Kommunikation und Interkulturalität: Herausfinden, worum es geht und was gemeint ist.

Genau, und das hat mich die letzten Jahre viele Haare gekostet, viele schlaflose Nächte, weil wir Deutsche aufgrund unserer Demokratieentwicklung, die wir in den letzten 50 Jahren genießen durften, oder aufgrund unserer gesellschaftlichen Freiheit glauben, dass es auf der Welt überall so sein muss, wie wir das kennen. Ich habe auch gelernt, erst einmal zuzuhören oder Kulturmittlerinnen zu engagieren. Das können Externe sein, die uns beraten, oder auch Mitarbeitende. Wir haben Kollegen und Kolleginnen aus dem Iran, der Türkei, Russland, Weißrussland. Wenn gedolmetscht werden muss, dann frage ich immer genau nach: Wie ist das gemeint? Die Erklärung, die dann folgt, ist für mich sehr hilfreich. Erst dann überlege ich, was zu tun ist, manchmal auch mithilfe von Beratern, und dann erst handle ich. Das ist der Unterschied zur Vergangenheit. Früher, wenn ich überhaupt zugehört habe, habe ich direkt gehandelt und heute ist so eine „Kulturtransformation“ dazwischen. Und seitdem ich das hier mehrheitlich im Unternehmen beherzige, haben wir auch weniger Konflikte. Das Maß der Konflikte, das wir auf der Welt haben, ist vielleicht dadurch bedingt, dass viele nicht zuhören wollen und direkt handeln.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten Friederike von Denffer und Romy Paulig

SIETAR Deutschland – Leben und arbeiten in der ganzen Welt

Interview: „Irgendwo im Nirgendwo unterwegs“

Dieser Beitrag ist ein Nachdruck der Zeitschrift Mondial, herausgegeben von SIETAR Deutschland e.V. . Dies ist eine Plattform für den interdisziplinären und fachlichen Austausch zu interkulturellen Themen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie richtet sich an Menschen, die Interesse an interkulturellen Fragen und Herausforderungen haben und in einem entsprechenden Spannungsfeld leben, forschen, trainieren, beraten oder vermittelnd in der Öffentlichkeit wirken. SIETAR Deutschland e.V. ist Teil des weltweit größten Netzwerkes auf dem Gebiet interkulturelle Zusammenarbeit und Internationalisierung.


Weitere Artikel zum Thema

weitere aktuelle Meldungen lesen