Die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich haben auch nach der jüngsten Verhandlungsrunde nicht weiter Gestalt angenommen. „Offen gesagt, ich bin enttäuscht und besorgt“, erklärte EU-Chefunterhändler Michel Barnier am 21. August nach Abschluss der Gespräche.
Auch jetzt hätten die britischen Unterhändler keine Bereitschaft gezeigt, in Fragen von grundlegender Bedeutung für die EU Fortschritte zu erzielen. Es gebe kein Bemühen, die europäischen Prioritäten zu verstehen. Zu diesen gehören laut Barnier „seit 2017“ eine faire und nachhaltige Lösung für die europäischen Fischer sowie gleiche Wettbewerbsbedingungen. Es könne keine „Rosinenpickerei“ und auch keinen Zugang „à la carte“ hinsichtlich des Binnenmarktes geben. Dessen Regeln und Vorgaben müssten akzeptiert werden. Wie der Chefunterhändler berichtete, hat London unter anderem seine Forderung nach Ausnahmen für in der EU tätige britische Unternehmen bei den Standards für Straßentransporte erneuert und zugleich auf einem den Mitgliedstaaten vergleichbaren Zugang zum Binnenmarkt beharrt.
Hinsichtlich eines Fischereiabkommens gab es nach Angaben von Barnier keinerlei Fortschritte. In den gesamten Verhandlungen habe es zwar in einigen technischen Fragen eine Annäherung gegeben, jedoch sei zu oft das Gefühl aufgekommen, dass man sich rückwärts bewege.
Nach derzeitigem Stand scheine ein Abkommen unwahrscheinlich, so Barniers Fazit. Der Franzose brachte Frustration zum Ausdruck: „Ich verstehe einfach nicht, warum wir wertvolle Zeit verschwenden.“ Seine Erklärung schloss er mit dem Satz „die Uhr tickt“.
Sein britischer Gegenpart David Frost kritisierte Medienberichten zufolge, dass die EU auf Fortschritten bei den Themen Fischerei und Wettbewerbsgleichheit bestehe, bevor sie sich anderen Bereichen zuwenden wolle. Dadurch werde ein Vorankommen unnötig erschwert.
EDA ruft zu Pragmatismus auf
Im Juni hatte sich der britische Premierminister Boris Johnson mit EU-Ratspräsident Charles Michel, Kommissionspräsidentin Dr. Ursula von der Leyen und Parlamentspräsident David Sassoli darauf verständigt, die Verhandlungen zu beschleunigen. Schon bei der Gesprächsrunde im Juli hatte es indes keine Fortschritte gegeben.
Barnier forderte die Briten nun auf, bei den kommenden Verhandlungen vom 7. bis zum 11. September in London konkrete und konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Er betonte erneut, dass ein potentielles Abkommen bis spätestens Ende Oktober verhandelt sein müsse, um am 1. Januar 2021 in Kraft treten zu können.
Im Vorfeld der jüngsten Gespräche hatte der Europäische Milchindustrieverband (EDA) „beispiellosen“ Pragmatismus von allen Beteiligten gefordert. Die Zukunft der europäischen und britischen Milchwirtschaft stehe auf dem Spiel. Erschütterungen könnten das wirtschaftliche und soziale Rückgrat des ländlichen Europa in Mitleidenschaft ziehen. Laut EDA muss ein ausgewogenes Abkommen erzielt werden, dass der Wirtschaft und den Bürgern auf beiden Seiten des Kanals zugutekommt. Nach Angaben des Verbandes drohen bei einem Scheitern der Verhandlungen signifikante Verwerfungen im Handel mit Milch und Milchprodukten. Mehr als 1,2 Mio. t Ware könnten gezwungen sein, neue Absatzmärkte zu finden, wenn die britischen Verbraucher die zusätzlichen Abgaben nicht akzeptieren wollten. Für die 2019 aus der EU über den Kanal exportierten Käselieferungen drohten Abgaben von mehr als 800 Mio. Euro.