Brexit:

Vom Freihandel in den ökonomischen Freitod

Stichtage kamen und gingen, Fristen sind abgelaufen und fest steht nur eines: Am 31. Dezember um Mitternacht endet die Übergangsperiode für den Abschluss eines Handelsabkommens zwischen der EU und Großbritannien. Gibt es bis Ende Dezember keinen Deal, gelten ab 1. Januar die Regeln der Welthandelsorganisation WTO – und die bedeuten teilweise heftige Zölle. Beim britischen Landmaschinenhandel gibt man sich stoisch: Was der Eisberg für die Titanic war, ist Brexit für die britische Wirtschaft: Jetzt geht es nur noch um die Geschwindigkeit des Untergangs ...

Brexit: Vom Freihandel in den ökonomischen Freitod

Marianne Landzettel: „Derweil annonciert die Regierung überall, man möge sich bitte vorbereiten. Nur auf was, weiß niemand …“

Einen Verbleib im gemeinsamen Markt hatte Premierminister Johnson von Anfang an ausgeschlossen, beim Brexit ginge es schließlich darum, das „Joch der EU-Regeln“ abzustreifen. Bis zum Ablauf der Übergangsfrist sind es noch zwei Wochen, und damit bleiben zwei Optionen: ein No-Deal-Brexit, oder ein Minimalabkommen, das Zölle vermeidet. „Für uns ergibt das keinen großen Unterschied, für Landmaschinen sind die Zölle gering“, sagt Stephen Howarth, Agrarökonom bei der Agricultural Engineerings Association (AEA), dem Verband der britischen Landmaschinenhersteller. Importeure können dem 1. Januar vergleichsweise gelassen entgegensehen: an den technischen Parametern werde sich wenig ändern, meint Howarth, lediglich die europäische CE Marke müsse innerhalb einer Übergangsfrist von zwei Jahren durch eine britische CA Marke ersetzt werden. Anfänglich werde es kaum Unterschiede zwischen den Marken geben, langfristig sei jedoch mit Abweichungen zu rechnen.

Klippe: Gebrauchtmaschinen

Die größten Probleme sieht Howarth im Gebrauchtmaschinensektor, was seiner Einschätzung nach erhebliche Konsequenzen für den gesamten Markt haben wird. Ob No-Deal oder Mini-Deal, ab 1. Januar hat Großbritannien für die EU den Status eines Drittlandes. Gebrauchte Maschinen müssen den am Tag des Exports geltenden EU-Standards entsprechen. Innerhalb der letzten beiden Jahre wurden beispielsweise die Emissionsstandards für Traktoren verschärft. „Damit können Traktoren, die älter als zwei Jahre sind, nicht mehr in EU-Länder verkauft werden“, sagt Howarth. Und auch für den Verkauf von Maschinen jüngeren Datums wird der Export in die EU extrem schwierig: ab Januar ist für landwirtschaftliche Maschinen ein Pflanzengesundheitszeugnis erforderlich. Im vergangenen Jahr sind in Großbritannien etwa 100 solcher Zeugnisse ausgestellt worden. Ausgehend von den gegenwärtigen Verkaufszahlen gebrauchter Maschinen in EU-Länder würden künftig nach Schätzung der AEA pro Jahr etwa 10.000 solcher Bescheinigungen gebraucht, und es wird weder das Personal noch die Infrastruktur geben, um diesen Bedarf auch nur annähernd zu decken. Die Folge ist, dass sich der Gebrauchtmaschinenmarkt auf Großbritannien beschränken wird, und das wird beträchtliche Auswirkungen auf den Verkauf neuer Maschinen haben: „Der Wert gebrauchter Maschinen wird fallen, Landwirte können beim Neukauf ihre alten Traktoren nicht mehr (oder nur zu sehr schlechten Konditionen) in Zahlung geben und werden deshalb nicht mehr alle drei Jahre einen Neukauf tätigen, sondern Maschinen wesentlich länger nutzen“, sagt Howarth. Vorsichtige Schätzungen bei der AEA gehen von einem Umsatzrückgang von etwa 15 Prozent aus, das entspräche etwa 330 Mio. Euro pro Jahr.

Brexit: Vom Freihandel in den ökonomischen Freitod

Dieses Schreiben der Regierung erhielten Unternehmen Ende November.

Boom bei Ersatzteilen

Angesichts der unklaren Lage steigt bereits jetzt der Bedarf an Ersatzteilen. Vier bis maximal sechs Prozent Zoll seien nicht das Problem, sagt Howarth, aber bisher würden die meisten Hersteller die Lieferung von Ersatzteilen innerhalb von 24 Stunden garantieren. Mit oder ohne Deal: ab ersten Januar wird es in allen Häfen Kontrollen geben. Selbst wenn die Abfertigungszeit pro Lkw nur 70 Sekunden beträgt, werden sich innerhalb weniger Tage lange Schlangen bilden – die Pläne der britischen Regierung sehen vor, dass eine Spur der M20 Autobahn zum Lkw Parkplatz umfunktioniert wird. Experten gehen davon aus, dass sich alle Industriezweige und Betriebe auf erhebliche Verzögerungen einstellen müssen. Howarth hat mit einigen Herstellern gesprochen, die deshalb bereits über die Lieferung von Ersatzteilen per Luftfracht nachdenken, was die Kosten für die Landwirte natürlich deutlich erhöhen würde.

Und noch etwas könnte die Kauflust britischer Landwirte bremsen: im November wurde zum ersten Mal seit 70 Jahren ein neues Agrargesetz verabschiedet. Flächengebundene Direktzahlungen werden durch ein Umweltprogramm ersetzt: Landwirte sollen für Leistungen wie Bodenverbesserung, Artenschutz und Prävention von Überschwemmungen entlohnt werden.

Ungewisse Zukunft

Von Nahrungsmittelproduktion ist im Gesetz hingegen kaum die Rede. „Wir stehen wirklich am Scheideweg“, sagt Ed Barker, Policy Direktor beim Verband der Agrarindustrie AIC, „sollen Farmer Nahrung produzieren oder ist Landschaftspflege ihre Hauptaufgabe – und wie sollen sie dafür entlohnt werden?“

Überlebenschancen werden in Zukunft nur noch große Betriebe haben, die große Mengen möglichst billig produzieren, und kleine, die zum Beispiel über Direktvermarktung, Wertschöpfung oder Biozertifizierung eine Marktnische bedienen. Für mittelgroße Betriebe ohne Spezialisierung hingegen sieht Stephen Howarth vom AEA jedoch kaum Chancen.

Noch sei zwar nicht klar, welche Umweltleistungen wie entlohnt werden sollen, aber niemand gehe davon aus, dass landwirtschaftliche Betriebe in Randlagen, für die bisher bis zu 90 Prozent ihres Einkommens aus EU-Zahlungen stammen, dies in Zukunft durch Leistungen im Bereich Landschaftspflege ausgleichen können. „In Zukunft werden wir Landmaschinen deshalb ganz anders verkaufen müssen“, sagt Howarth, „die Hersteller müssen deutlich mehr Beratung anbieten und jeden Kunden individuell überzeugen, warum es wirtschaftlich sinnvoll ist, ein bestimmtes Gerät anzuschaffen.“

Und noch aus einem anderen Grund werden viele Landwirte bei Neuanschaffungen Zurückhaltung üben: ob Saatgut, Pestizide oder Dünger – der Mehraufwand für zusätzliche Kontrollen, Zertifikate, Transport- und Lagerkosten wird landwirtschaftliche Produktionsmittel verteuern. Gleichzeitig ist unklar, ob und in wieweit landwirtschaftliche Produkte aus Großbritannien – vom Bullensamen über Lammfleisch bis zu Whisky – in der EU noch konkurrenzfähig sein werden. Die meisten britischen Landwirte denken derzeit über neue Märkte nach, nicht über Neuanschaffungen.

Und dann ist da noch Nordirland... Das Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU schreibt fest, dass die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland offen bleiben muss – Nordirland bleibt de facto Teil der EU. Dass bedeutet, dass für den Warenverkehr zwischen der britischen Insel (bestehend aus England, Schottland und Wales) und Nordirland Kontrollen gelten wie beispielsweise an der Grenze zu Frankreich. Landmaschinenfirmen mit Vertretungen in der Republik Irland werden voraussichtlich in Zukunft von dort aus liefern.

Wie sich jedoch der innerbritische Warenaustausch über die irische See praktisch gestalten soll, das sagt Ed Barker von der AIC „ist weiterhin ein großes schwarzes Loch.“

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